„Ich merke, dass ich schon wieder sauer werde, denn es ist ja eine Unverschämtheit, dass die AfD das hinkriegt. [Dabei haben] wir ja eigentlich die Ressourcen, die Bildung und auch die Empathie und Solidarität, [um an die Leute] heranzukommen.“ Orry Mittenmayer, ehrenamtlicher Gewerkschafter bei der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten, sitzt mit drei weiteren Gästen auf dem Podium im überfüllten Auditorium des UNI:Lokals. Er beobachtet mit Sorge, wie es der AfD gelingt, in Betriebsräten und anderen sozialen Räumen an die Lebensrealitäten der Menschen anzudocken. Gleichzeitig sieht er gerade in diesen Räumen Chancen für die Stärkung einer demokratischen Kultur: „Eine der stärksten Maßnahmen betrifft betriebliche Mitbestimmung. Ein entscheidendes Bollwerk, um Rechtsextremismus einzudämmen, können Betriebsräte sein.“ Außerdem gelte es für politisch Engagierte, den Kontakt zu den Beschäftigten zu suchen: „[Wir müssen] in die Betriebe gehen und mit den Beschäftigten reden. Denn wie sollen die sich mit den sozialen Bewegungen identifizieren, wenn sie das Gefühl haben, dass sich die Bewegungen gar nicht für deren Lebensrealität interessieren?“
Das persönliche Gespräch ist auch für Jana Oehlerking ein wichtiger Baustein für den Einsatz gegen Rechtspopulismus. „Wir müssen darüber sprechen, dass Demokratie auch Beziehungsarbeit ist. Wir müssen […] aus unseren Blasen herauskommen“ Oehlerking ist in der Klimagerechtigkeitsbewegung und im Bündnis „Kassel gegen Rechts“ aktiv. Die Arbeit für „Wir fahren zusammen“ hat ihr gezeigt, dass es sich lohnt, mit Bündnissen zwischen unterschiedlichen Milieus Brücken zu schlagen. Bei „Wir fahren zusammen“ stehen Menschen aus der Klimabewegung gemeinsam mit Angestellten aus den Verkehrsbetrieben für einen Ausbau des ÖPNV sowie bessere Arbeitsbedingungen in dieser Branche ein. Nach anfänglichen Vorbehalten gegenüber der jeweils anderen Gruppe hat sich eine stabile Zusammenarbeit entwickelt, in der beide Gruppen die jeweils andere Perspektive besser zu verstehen lernen. „Das verändert, wie wir alle denken. Es bringt mir ein größeres Verständnis davon, was tatsächlich das Problem von Menschen in Betrieben ist. Das verändert aber auch in den Betrieben das Verständnis dafür, was eine soziale Bewegung kann.“ Oehlerking sieht in solchen Bündnissen Chancen jenseits vom Erreichen konkreter politischer Forderungen: „Das ist der Job der Zivilgesellschaft: dass wir breite Bündnisse schmieden und dass wir mehr miteinander sprechen und für eine größere Sache einstehen. Und nicht nur dafür, dass die AfD bei den nächsten Landtagswahlen wieder unter 10 % der Stimmen bekommt.“
Zwischen Mittenmayer und Oehlerking sitzt Lena Röllicke auf dem Podium. Sie beforscht am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung, was es bedeutet, wenn solche Perspektivwechsel, wie sie z.B. durch 'Wir fahren zusammen' ermöglicht werden, in der Gesellschaft fehlen. Sie verweist auf eine Herausforderung, die der wachsende Zuspruch zu Rechtspopulisten und vermehrte Verschwörungsglauben in Europa mit sich bringe: „Dass es vermehrt eine gesellschaftliche Polarisierung - oder was ich affektive Polarisierung nennen würde - in Bezug auf rechte und nicht rechte Lager gibt. Also ein wachsendes Denken im Sinne von: ‚Ach, das sind die?‘ Mit den dazugehörigen Stereotypen: ‚Die sehen so und so aus, wahrscheinlich wählen die das und das und denken so und so.‘ Und eine klare Abgrenzung: ‚Das sind wir und das sind die.’“ Dieses Phänomen finde sich auch zwischen Gruppen, die sich auf dem Boden der demokratischen Grundordnung bewegen und könne demokratischen Aushandlungsprozessen schaden. Denn im Ringen um gemeinsame Lösungen stehen Vorbehalte zwischen den Interessengruppen einer sachorientierten Debatte allzu oft im Weg und untergraben das Vertrauen und die Funktionsfähigkeit der Demokratie.
Wenn es Menschen so schwerfällt, sich unabhängig von ihrer Gruppenzugehörigkeit unvoreingenommen zu begegnen und für eine gemeinsame Sache einzustehen, könnte affektive Polarisierung dann auch den Zusammenhalt der neu geschmiedeten Bündnisse gefährden? An dieser Stelle bringt Dr. Dr. Carolina Vestena von der Uni Kassel ihre Expertise in die Diskussion ein. Sie forscht und lehrt zu sozialen Bewegungen und teilt Hinweise aus der Protestforschung, was die Zivilgesellschaft in den Protesten zusammenhalten könnte: „Wir brauchen eine offene Vorstellung von Kollektivität. Es braucht eine Kollektivität der Menschen - Wir bauen etwas zusammen, solidarisch und kollektiv, aber wir müssen deshalb nicht alle gleich sein.“ Daher sollte nicht vergessen werden, dass die Bündnisse nicht allein aus linken und grünen Kräften bestehen. Lena Röllicke plädiert für mehr Sensibilität bezüglich dieser Unterschiede: „Eine Herausforderung ist, dass man alle Menschen mitnimmt und eingesteht, dass wir sehr unterschiedliche positive Visionen haben.“ Carolina Vestena stimmt zu: „Je länger eine Bewegung existiert, desto deutlicher werden ihre Widersprüche. Die Herausforderung ist, mit den Widersprüchen zu leben. Empathie ist ein Schlüssel.[...] Denn die impulsive Denkweise führt eher zu einer Abwehrhaltung und man hat eine gewisse moralische Haltung dazu, wie sich der anderen verhalten.“ Das solle nicht bedeuten, mit Kritik an der Politik der Ampel-Regierung oder der Agenda der CDU hinter dem Berg zu halten. Es stellt sich aber die Frage, in welchem Raum und in welcher Form diese Kritik angebracht und effektiv ist und ob die aktuellen Proteste der beste Ort für diese Kritik sind.
Die Funktion der Proteste sehen die Diskutierenden eher an anderer Stelle, z.B. als Motivationsquelle und wichtiges Zeichen für Solidarität im Engagement gegen Rechtsextremismus. Jana Oehlerking betont, wie wichtig es sei, die Motivation aus den Protesten in politische Diskussionen in den eigenen sozialen Wirkungsbereich zu kanalisieren. „Und dafür können wir nicht erwarten, dass die Menschen das alleine machen. Dafür braucht es das Gefühl, den Rückhalt einer größeren Bewegung zu haben und dieser Rückhalt kann gerade aus den Protesten heraus entstehen.“
Womit wir wieder bei den alltäglichen sozialen Räumen und deren potenzieller Vereinnahmung durch rechtspopulistische Akteure angelangt wären. Wie können wir in diesen Räumen Menschen erreichen, deren Vertrauen in die Demokratie bereits schwindet? Die Diskussion zeigt, dass es dafür kein Patentrezept gibt. Ein paar Leitlinien können wir aus dem Gespräch dennoch mit nach Hause nehmen. Dazu gehört, dass wir uns aufrichtig füreinander interessieren und neugierig auf die Ursachen unserer Unterschiede sind. Dass wir zuhören, gemeinsame Werte suchen und eigene Werte vertreten. Es gelte, die „Wir-gegen-die-Haltung“ aufzubrechen, welche Rechtspopulist:innen mit unterkomplexen Deutungen der Gesellschaft zu stärken versuchen. Und bei allen Annäherungsversuchen dürfen wir nicht davor zurückschrecken, gegenüber menschenfeindlichen Ideen klar Haltung zu zeigen. Nicht zuletzt müssen wir uns fragen, ob wir eine Sprache sprechen, die von unserem Gegenüber auch so verstanden wird, wie wir uns das wünschen. Denn während beispielsweise der Begriff Demokratie für die einen das eigene Wertfundament widerspiegelt, ist er für die anderen nur eine leere Worthülse. Wie könnte es auch anders sein, wenn die Demokratie im Alltag vieler Menschen gar nicht erlebbar ist und sie nicht das Gefühl haben, durch Abgeordnete repräsentiert zu werden?
An diesem Abend scheinen sich die Podiumsgäste einig, dass es beim gesellschaftlichen Engagement gegen Rechtsextremismus um mehr gehen muss als um das nächste Wahlergebnis der AfD. Das Engagement in Vereinen, Betrieben und Bündnissen formt unser Zusammenleben im Kleinen und kann dazu beitragen, Vorurteile abzubauen. Das macht ein demokratisches Miteinander und den Schutz der Rechte aller erst möglich. Dazu gehört, marginalisierte Gruppen mit einzubeziehen, sich gegenseitig zu sehen, Gemeinsamkeiten zu feiern und Unterschiede anzuerkennen. Am Ende fasst es Mittenmayer so zusammen: „Gemeinsam für die Gesellschaft aktiv zu sein, heißt auch zu zeigen: Ich interessiere mich für dich, für deine Kultur und Besonderheiten. Es heißt, dass man gemeinsam in einer Gemeinschaft aktiv ist. Das ist leider genau das, was die AfD macht. Sie ist in den Kommunen aktiv, sie ist auf den Dorffesten aktiv. Wo sind wir?“
Das klingt nach einem Appell, sich an die eigene Nase zu fassen und das eigene Wirken in der Gesellschaft kritisch zu hinterfragen. Einige der Gäste gehen an diesem Abend mit frischen Fragen nach Hause, die es erst einmal im eigenen Kopf zu bewegen gilt. „Wie wirken unsere Botschaften auf Menschen außerhalb meiner Meinungsblase?“ oder „Soll ich jetzt im örtlichen Schützenverein oder eher im Gemeinderat aktiv werden?“ Von den Menschen, die noch länger bleiben, bittet die eine Hälfte um Folgeveranstaltungen, um genauer zu erfahren, wie sich das Gelernte nun konkret in die Praxis umsetzen lässt. Andere hingegen erklären ihren Unmut darüber, dass zu wenig über die Verantwortung von Politik und Wirtschaft gesprochen wurde, denn die Zivilgesellschaft allein könne es auch nicht richten. Für alle ist jedoch deutlich geworden: für klare Patentrezepte gegen Rechtspopulismus ist das Phänomen zu komplex. Umso wichtiger, dass wir nach zehn Jahren Zulauf nach Rechts nicht stur an alten Strategien kleben und offen dafür sind, dazuzulernen – von den Menschen in unserem Umfeld oder bei der nächsten Veranstaltung im UNI:Lokal.
Die Veranstaltung lässt sich auch hier nachhören.
Text: David Loesche